Artenreiches Stadtgrün

Wiesen

Artenreiches Stadtgrün

Neue Wege zur Vielfalt im Stadtpark

Öffentliche Grünräume stellen eine der größten Flächenressourcen in Großstädten wie Köln und Leverkusen dar. Bisher wurden Stadtparks meist nur als Ort der Erholung und Freizeitnutzung für uns Menschen konzipiert. Dabei bieten viele der größeren Landschaftsparks abseits der zentralen Aufenthaltsräume Flächen, die im Rahmen einer naturnahen Pflege leicht in artenreiche Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten verwandelt werden könnten.

Spätestens seit dem „Bienensterben“ wünschen sich auch viele Bürgerinnen und Bürger ein vielfältiges und buntes Lebensumfeld. Statt monotoner Rasenflächen bis zum Horizont können Wildblumenwiesen, bunte Säume, Tümpel, Steinhaufen und naturnahe gestufte Waldmäntel die urbanen Landschaften unserer Umgebung zu ästhetisch ansprechenden Lern- und Erfahrungsorten machen. Die Naturschutzstation berät die Stadt Köln im Rahmen der Initiavie „Stadtgrün naturnah“ und wirbt für eine naturnahe Grünpflege.

StadtNaturParke in Ossendorf und Vogelsang

Rasenflächen bis zum Horizont? Das gehört in zwei Stadtparks in Köln-Ehrenfeld bald der Vergangenheit an. Stattdessen werden dort in den kommenden Jahren mit unterschiedlichen Methoden auf mehr als 6 Hektar Fläche Wildblumenwiesen angelegt, wie sie für das Rheinland einst typisch waren. Die Maßnahmen sind Teil der Bemühungen der Stadt Köln, die Artenvielfalt in öffentlichen Grünräumen zu fördern. Als finanzstarken Partner hat sie dafür die Kölner Grünstiftung gewinnen können. Die NABU-Naturschutzstation berät die Projektpartner bei fachlichen Fragen rund um Anlage und Entwicklungspflege und führt in den kommenden Jahren ein Monitoring der jungen Wiesen durch.

Spenderheu von artenreichen Wiesen: Duftet nicht nur herrlich nach Kräutern, sondern enthält auch unzählige Samen von Wiesenblumen. Bild: Volker Unterladstetter

Im Projekt werden unterschiedliche Methoden der Wiesenanlage erprobt. Per Mahdgutübertragung wird auf drei Flächen das Heu artenreicher Spenderflächen aus dem Raum Neuss verteilt. Das ausgebreitete Heu enthält die reifen Samen vieler verschiedener Wiesenblumen, die vor Ort herausfallen und keimen. Auch Moose, Pilze und Kleintiere werden bei dieser Methode an den neuen Standort gebracht, so dass dort im besten Fall eine mehr oder minder exakte Kopie der Spenderfläche entsteht. Eine weitere praktizierte Methode ist die Einsaat von Regio-Saatgut gebietsheimischer Pflanzen. Das Saatgut stammt von Wildpflanzen aus der Region, so dass die genetische Ausprägung der Wildpflanzen optimal an ihren neuen Standort angepasst ist.

Wie können Sie das Ehrenfelder Wiesenprojekt unterstützen? Zwei Dinge sind vor Ort besonders wichtig: Erstens die Vermeidung von Nährstoffeinträgen in die jungen Wiesen. Besonders Hundehalter können die Wiesenentwicklung direkt unterstützen, indem sie eventuell anfallenden Hundekot ihrer vierbeinigen Begleiter entsorgen. Zweitens sollten die Wiesen gerade in der Wachstumszeit so wenig wie möglich begangen werden, da die meisten Wiesenblumen sich von Fußtritten kaum erholen. Das Ergebnis sind am Ende „Plattwiesen“, die weder ansprechend aussehen noch richtig gemäht werden können. Eine zweimalige fachgerechte Mahd im Sommer und im Herbst ist allerdings eine Voraussetzung dafür, dass die jungen Wiesen Jahr für Jahr vielfältiger und kräuterreicher werden. Die Standorte der Wiesen wurden in innerhalb der Parkanlagen so ausgewählt, dass möglichst wenig Nutzungskonkurrenz durch ParkbesucherInnen ensteht. Damit können die Parks auch weiterhin für Spiel und Sport genutzt werden, gewinnen durch die neuen Wiesen allerdings an Lebendigkeit und zeigen eine Landschaftsästhetik, die heute selten geworden ist.

Bedrohtes Paradies

Wiesen

Bedrohtes Paradies

Drei, zwo, eins… keins (mehr da)?

Artenreiche Fettwiese im Spätfrühling. Zahlreiche Wiesenkräuter gelangen nun zur Blüte. Bild: Volker Unterladstetter

Nicht nur die biologische Vielfalt von Wiesen ist atemberaubend. Leider halten artenreiche Wiesen auch den traurigen Rekord in der Gruppe der gefährdeten Ökosysteme. Geschätzte 92% des artenreiches Graslands sind in den letzten Jahrzehnten in NRW verschwunden, Tendenz weiter fallend. Mittlerweile sind die letzten Wiesen des Flachlands von vollständiger Vernichtung bedroht. Wenige Jahre intensivierter maschineller bzw. chemischer Nutzung reichen aus, um aus einer Jahrhunderte alten artenreichen Wiese einen monotonen Grasacker zu machen. Die Anwendung von Kunstdünger und Gülle steigert zwar kurzfristig den Ernteertrag auf Wiesen, allerdings auf Kosten der Vielfalt. Die allermeisten Pflanzen und Tiere sterben im Rahmen solcher Produktivitätssteigerungen auf den Flächen aus. Ist die Wiese dann erst einmal an Arten verarmt, dauert es viele Jahre, um daraus wieder eine blütenreiche Magerwiese zu entwickeln.

Was wir tun

Die Naturschutzstation engagiert sich in ihrem Arbeitsgebiet in Köln und Leverkusen für den Erhalt der letzten artenreichen Wiesen. In den meisten Fällen sind diese Wiesen kleine Reliktflächen, die abseits der großen Agrarflächen in Naturschutzgebieten überdauert haben. Größeres zusammenhängendes Wiesenland mit einer mehr oder minder intakten Artengarnitur findet sich heute nur noch in den Rheinauen.

Neben dem dringenden Schutz der Altwiesen arbeitet die Naturschutzstation in verschiedenen Projekten an der ökologischen Aufwertung bzw. Wiederherstellung artenarmer Graslandflächen, um den zahlreichen gefährdeten Pflanzen und Tieren zusätzlichen Lebensraum zur Verfügung zu stellen. Gerade wenig genutzte öffentliche Grünflächen eignen sich an vielen Standorten dazu, die fast ausgestorbenen artenreichen Wiesen von einst wieder in unsere Landschaften zurückzuholen. In Köln haben wir mit dem Konzept der „StadtNaturParke“ einen Vorschlag entwickelt, wie Erholungs- und Freizeitnutzungen in größeren Grünanlagen mit bunten Heuwiese und anderen naturnahen Biotopelementen verbunden werden können. Und auch in Leverkusen werden wir in den kommenden Jahren verstärkt im Bereich des kommunalen Grüns tätig sein.

 

Pflanzenwelt der Wiesen

Wiesen

Pflanzenwelt der Wiesen

Die Pflanzenwelt der Wiesen – Wo Töpfe klappern und Steine brechen

Zottiger Klappertopf (Rhinanthus alectorolophus) auf einer Kölner Streuobstwiese. Als Halbparasit zapft er die Wurzeln benachbarter Gräser an. Bild: Volker Unterladstetter

Haben Sie schon einmal vom Bocksbart gehört? Vom Klappertopf? Oder wenigstens vom Knöllchen-Steinbrech? Nein? Aber zumindest die Glockenblume dürfte Ihnen doch noch vertraut sein? Auch nicht? Kein Wunder, wenn Sie bei diesen Namen keine Bilder mehr vor Augen haben. Denn die meisten Wiesenblumen sind längst auf dem Rückzug, es gibt sie kaum noch im Rheinland. Die Chance, bei einem Spaziergang durch die nähere Umgebung auf einen Klappertopf zu treffen, liegt bei nahezu Null. Ein Lottogewinn wäre ähnlich wahrscheinlich. Und dabei gäbe es gleich drei Arten von Klappertöpfen, die theoretisch auf Wiesen im Rheinland vorkommen könnten: Der Zottige Klappertopf, und seine beiden Brüder, der Kleine und der Große Klappertopf. Die Verwandtschaft sieht man ihnen deutlich an. Alle haben sie zitronengelbe Rachenblüten, die ein bisschen an ein Löwenmäulchen erinnern. Mit ihnen locken sie von Juni bis Juli nektarsuchende Hummeln an. Früher wusste die Ackerhummel von Welt, wo sich ausgedehnte Klappertopf-Bestände finden lassen. Heute haben aber wohl auch Hummeln längst verlernt, wie schmackhaft Klappertopf-Nektar sein kann. Wahrscheinlich kennen sie ihn nur noch aus alten Hummel-Legenden.

Der Bocksbart ist immerhin noch nicht ganz so rar wie die Klappertöpfe. Mit seinen großen gelben Korbblüten lugt er immer noch hier und da aus extensiv bewirtschafteten Wiesen hervor. Wer ihn sehen will, muss sich allerdings ein wenig sputen, denn um die Mittagszeit macht er seine Blüten bereits wieder zu. Der Bocksbart ist augenscheinlich ein Frühaufsteher. Bemerkenswert ist auch, was nach der Blüte passiert. Wenn die Hüllblätter sich wieder öffnen, entfaltet sich eine riesengroße Pusteblume. Jeder Same ist an einem kunstvollen Federschirmchen befestigt. Bei einem Windstoß fliegen sie dann kreuz und quer über die Wiese. Zwar gehört der Bocksbart nicht zu den Fernfliegern, da seine Samen relativ schwer sind. Einige Meter überwindet er aber mit Leichtigkeit. Und das muss er auch, denn zur Keimung ist er auf kleine offene Bodenbereiche in der Wiese angewiesen.

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Kleines Pflänzchen mit starkem Namen

Blüht im April auf mageren Wiesen: Der Knöllchen-Steinbrech (Saxifraga granulata). Ob er wirklich Steine brechen kann? Bild: Volker Unterladstetter

Kommen wir zum Knöllchen-Steinbrech, einem weiteren Vertreter aus der Kategorie: Adresse unbekannt/ verzogen. Früher, ja, da war doch zumindest auf den Wiesen noch so Manches besser. Da gehörte der Steinbrech zu den ersten Blumen, die im Frühjahr ihre Blütentriebe in die kühle Aprilluft hinausstreckten und manche Wiese mit weißen Tupfern schmückten. Ist die Blütezeit vorbei, ziehen auch die zarten nierenförmigen Blättchen schnell ein, und bald ist von der Pflanze nichts mehr zu sehen. Gar nichts? Nun, wer sich die Standorte merkt, wird vielleicht mit etwas Glück winzig kleine Kügelchen finden. Es sind Brutzwiebelchen, die sich in den Achseln der Grundblätter bilden. Durch diese Knöllchen kann sich der Steinbrech auch vegetativ vermehren. Vielleicht werden sie durch die Mahd auf der Wiese verteilt und sorgen so für die Ausbreitung der Art. Ganz offensichtlich nützen aber auch die schönsten Brutzwiebelchen nichts, wenn Wiesen immer öfter gemäht und mit Kunstdünger getränkt werden. Und so ist die liebenswerte weiße Blume aus dem Rheinland fast verschwunden.

Neu angelegte Glatthaferwiese in Köln-Lindenthal. Blühende Wiesen bis zum Horizont statt Raseneinfalt. Ein Vorbild? Bild: Volker Unterladstetter

Klappertopf, Bocksbart, und Steinbrech. Drei Einzelschicksale? Mitnichten. Sie stehen stellvertretend für viele weitere Pflanzenarten der Wiesen, die im Rheinland im Verschwinden begriffen sind. Was gäbe es nicht alles noch über sie zu berichten? Und die ulkigen Namen erst! Doch wenn sich an der gegenwärtigen Landnutzung nichts ändert, werden diese Namen bald nur noch in alten Büchern zu finden sein. Hier sind Landwirte ebenso in der Pflicht wie Kommunen, Unternehmen (Stichwort: naturnahes Firmengelände) und nicht zuletzt auch Gartenbesitzer. Überall, wo heute Grasland existiert, könnte es ein wertvoller Lebensraum sein. Nicht nur für Klappertopf und Co. Das setzt aber voraus, dass wir unsere Handlungsweisen hinterfragen. Muss landwirtschaftliches Grünland fünfmal jährlich gemäht werden? Müssen öffentliche Grünanlagen Hektarweise Rasenflächen aufweisen, oder könnte man nicht als Gestaltungselement auch Wildblumenwiesen integrieren? Anstatt Straßen- und Wegränder „runterzumulchen“, könnten sie zu wertvollen Lebensadern weiterentwickelt werden. Fördern wir zur Abwechslung mal den Fernverkehr bei Insekten.

Hingucker Gartenwiese

Einmal „Bunte Wiese“ zum Selber-Machen!

Auf den Projektflächen der Naturschutzstation jedenfalls konnten in Köln und Leverkusen bereits einige neue Lebensräume geschaffen werden. Das freut dann nicht nur Klappertopf, Bocksbart und Steinbrech, sondern auch unzählige andere Pflanzen- und Tierarten. Und wer weiß, vielleicht haben ja auch Sie – ja, genau Sie! – noch ein bisschen Platz im Garten. Eine Blumenwiese ist der Stolz eines jeden Gartens, und die Krönung der Gärtnerkunst. Probieren Sie es aus!

Ökologischer Wert

Wiesen

Ökologischer Wert von Wiesen und Weiden

Biologische Vielfalt auf Weltklassenivaeu

Artenvielfalt ist die harte Währung im Naturschutz. Ökosysteme sollten möglichst viele verschiedene Lebensformen unterstützen, lehrt uns die Ökologie. Je mehr, desto besser. Aber so einfach das klingt – draußen in freier Wildbahn ist diese Artenvielfalt manchmal gar nicht so leicht zu entdecken. Im nahen Buchenwald sieht man zunächst mal, nun ja…, Buchen. Und die alte Bahnhofsbrache um die Ecke bietet auf den ersten Blick auch nicht viel mehr als Brombeeren, Gleisschotter und verfallene Gebäude aus glücklicheren Tagen der Deutschen Bahn. 

Anders verhält es sich dagegen bei den artenreiche Wiesen. Hier springt die Vielfalt auch naturwissenschaftlich nicht vorgebildete Menschen geradezu an. Denn Wiesen sind bunt, vielfältig strukturiert und voller Leben: Es krabbelt, klettert, springt, flattert, zirpt, summt und brummt auf allen Etagen. Und das sind „nur“ die Vertreter der ca. 44.000 einheimischen Arten von Wirbellosen, von denen die meisten auch in Graslandökosystemen leben. Hinzu kommen noch Hunderte von Gefäßpflanzenarten und Moosen, außerdem einige Dutzend Vögel und Säuretiere. Gerade im Bereich der Vögel finden sich viele Offenlandarten, die auf artenreiches Grasland angewiesen sind. In Köln und Leverkusen zählen dazu etwa Wiesenpieper und Schwarzkehlchen.

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Kleine Fläche, große Vielfalt

Artenreiche Bergwiese im Schwarzwald. Sahen unsere Wiesen im Rheinland auch einmal so aus? Bild: Volker Unterladstetter

Die eigentliche Vielfalt von Wiesen beginnt bei den Primärproduzenten der Ökosysteme, den Pflanzen. Auch hier sind die Zahlen bemerkenswert. Eine der artenreichsten Wiesen der Welt wurde in Tschechien untersucht. Dort hat man einen Plot von nur 0,25 Quadratmetern abgesteckt und alle Pflanzenarten gezählt, die darin vorkommen. Das Resultat ist kaum zu glauben: Rund 44 Arten wuchsen auf dem Viertel eines Quadratmeters einträchtig beisammen. Auf einer anderen Untersuchungsfläche (ebenfalls in Tschechien) fand man auf 49 Quadratmetern genau 131 Gefäßpflanzenarten. Das wären immerhin fast ein Zehntel aller im Kölner Stadtgebiet vorkommenden Pflanzenarten (etwa 1.500; Stand 2015), und das auf der Fläche eines besseren Vorgartens. Wiesen sind damit potenziell offene Systeme, die Zahl ihrer Organismen nach oben hin steigerbar.

Besonders eindrucksvoll wird dies durch das Jena-Experiment belegt, in dem seit 2002 auf einer Fläche von 10 Hektar das Modellökosystem Wiese untersucht wird. Die bisherigen Befunde des Experiments sind eindeutig: Artenreiche Wiesen mit vielen verschiedenen Pflanzen sind nicht nur produktiver als artenarme (erzeugen also mehr Biomasse). Sie führen auch zu einer höheren Vielfalt bei Tieren und Mikroorganismen (Vielfalt bedingt Vielfalt), sind stabiler gegenüber Störungen (Resilienz), und erbringen höhere Ökosystemleistungen als artenarme Bestände (zum Beispiel, indem sie das Auswaschen von Stickstoffverbindungen ins Grundwasser minimieren).

Kurze Geschichte der Streuobstwiesen

Streuobst

Kurze Geschichte der Streuobstwiesen

Als die Äpfel und Birnen ins Rheinland kamen…

Der Obstbau in Mitteleuropa reicht mindestens 2.000 Jahre zurück. Wie so oft waren es die Römer, die hier mutmaßlich die ersten Impulse setzten. Als die Legionäre (in Sandalen?) über die Alpen marschierten, hatten sie die ersten Kultursorten von Apfel, Birne und Co. im Gepäck. Die Römer hatten die Auslese und Vermehrung besonders schmackhafter Sorten ihrerseits von den Griechen übernommen, die sie ihrerseits von den Persern hatten usw. (die Kaskade setzt sich im Falle des Apfels bis in die zentralasiatischen Gebirgszüge im heutigen Kasachstan fort, wo die ersten Ur-Äpfel wuchsen und noch heute wachsen).

Nicholas Roerich (1930) „Frühling in Kulu“ (public domain). Künstlerische Darstellung von Krishna vor einer Bergkulisse mit blühenden Rosengewächsen. Die Bergwelt Zentralasiens ist die Heimat von Sievers Apfel (Malus sieversii), dem Urahn unserer heutigen Kulturäpfel. Lauschte er einst Krishnas Flötenspiel?

Als die Römer zu Beginn der Völkerwanderzeit ihre alten Provinzen im Rheinland aufgeben mussten, geriet die Obstkultur zunächst wieder in Vergessenheit, jedoch nicht vollständig. Es waren die Klöster und Krongüter, in denen die Kulturtechniken weiter praktiziert wurden. Besonders berühmt wurde die Landgüterverordnung Capitulare de villis von Kaiser Karl dem Großen, in der er detaillierte Reformen im Garten- und Landschaftsbau formulierte und erste Obstsorten namentlich benannte, die auf seinen Gütern gepflanzt werden sollten. In den folgenden Jahrhunderten entstanden in ganz Mitteleuropa, vorwiegend aber in Frankreich und England, die ersten Kultursorten von Äpfeln und Birnen, die bis in die Gegenwart überdauert haben (zum Beispiel die Borsdorfer Äpfel, der Königliche Krummstiel oder die Wintergoldparmäne).

Exkurs: Der Borsdorfer

Urapfel des Mittelalters

Er ist ein lebendes Fossil unter unseren Apfelsorten: der Borsdorfer. Genauer gesagt handelt es sich gar nicht um eine einzelne Sorte, sondern um eine ganze Gruppe von Kulturäpfeln. Der bekannteste unter ihnen ist der Edelborsdorfer: Klein, flachrund gebaut, und hier und da mit einer kecken Warze auf der goldgelben Backe. Die historische Abbildung (oberer Apfel) stammt aus Johann Prokop Mayers Pomona Franconia (1776 – 1801, public domain).

Die ersten Nachweise des Borsdorfers datieren je nach Quelle bis ins 12. Jahrhundert zurück. Sein Ursprung wird im Saaletal angenommen, vielleicht geht er auf den Ort Borsdorf nahe Meißen zurück. Malen wir uns also aus, wie die deutschen Fürsten und Ritter, die Bischöfe und Mönche im Hoch-Mittelalter zur Vesperzeit in einen Borsdorfer bissen – in einen Apfel des selben Baum-Individuums, das bis heute auf immer neue Unterlagen veredelt auf mancher Obstwiese weiterlebt. In der Potsdamer Alexandrowka-Kolonie steht gar ein mutmaßlich knapp 200 Jahre alter Baum des Herbstborsdorfers. Scheinbar unbeeindruckt hat er sämtliche Weltkriege und Systemwechsel überdauert.

Das 19. Jahrhundert gilt allgemein als Höhepunkt der Sortenvielfalt in Mitteleuropa. Allein etwa 2.000 Apfelsorten soll es um diese Zeit im deutschsprachigen Raum gegeben haben – bei weitem zu viele, um nicht den Überblick zu verlieren (zumal nahezu alle Sorten unter zahlreichen Synonymen und regionalen Namen bekannt waren). Im Zuge der zunehmenden Technisierung und wachsender Absatzmärkte im In- und Ausland wurde die schier unüberschaubare Sortenvielfalt immer mehr als Problem angesehen. Wo die entstehenden Pomologenvereine zunächst Zusammenschlüsse von passionierten Obstliebhabern aus der oberen Gesellschaftsschicht waren (so tummelten sich viele Lehrer, Pfarrer und Apotheker im Pomologen-Kosmos),  drängten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die (klein)bürgerlichen Schichten in diese Kreise vor. Der daraus entstehende moderne Gartenbau wandte sich bald einer gänzlich anderen Richtung zu, als es die Sortenliebhaberei des 19. Jahrhunderts im Sinn hatte. Die Produktionsbedingungen im Obstbau hatten sich nun der maschinellen Ernte und Verarbeitung anzupassen. Man begann damit, das Sortensortiment zu vereinheitlichen und radikal zu vereinfachen. Anstelle der alten Sortenflut sollten wenige Dutzend Sorten die überregionale Vermarktung fördern und neue Absatzmärkte erschließen. Damit war nicht nur die genetische Vielfalt der alten, über viele Jahrhunderte ausgelesenen Sorten in Gefahr. Auch der landschaftsprägende Anbau von hochkronigen Obstbäumen wurde als nicht mehr zeitgemäß angesehen. An seine Stelle wurde der Anbau auf sogenannten Niederstammplantagen entwickelt.

Abgängiger Baum auf einer Streuobstwiese. Mangelnde Pflege infolge mangelnder Wertschätzung. Für den Naturschutz sind solche Totbäume nur ein kurzfristiger Gewinn. (Foto: NABU/ Rolf Jürgens)

So effizient diese Plantagen produzieren mochten, sie taten es fortan nur noch unter dem massiven Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden. Zu groß, zu monoton, zu krankheitsanfällig waren die modernen Obstplantagen, um ohne Chemie auszukommen. Wo früher Steinkauz, Grünspecht und Gartenrotschwanz in den Höhlen alter Obstbäume brüteten, wo zahllose Kräuter die Wiesen und Weiden mit bunten Blütentupfern schmückten, wo Myriaden von Insekten summten und krabbelten, standen nach den großen Flurbereinigungen und Rodungen der 1950er bis 1970er Jahre nur noch endlose Reihen makelloser Obstbüsche.

Die Agrochemie hatte das alte Kulturlandschaftsbild völlig verändert, und sie tut es bis heute. Wo heute noch Streuobstwiesen überdauert haben, sind sie das Ergebnis eines wachsenden Naturschutzinteresses. Unter globalen Marktbedingungen sind sie längst nicht mehr wirtschaftlich. Und doch besitzen Streuobstwiesen einen Wert, der mit Geld nicht aufzuwiegen ist: Sie sind ein Hort der Vielfalt, ein Gen-Reservoir, und eine Liebeserklärung an unsere Landschaft.

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